Zum Hauptinhalt wechseln

Gelebte Sozialpartnerschaft

Wer erfindet neue Lehrberufe?

Unsere Arbeitswelt wandelt sich stark. Neue Technologien und Materialien, die Digitalisierung, moderne Produktionsabläufe oder die „grüne Transformation“ – all das erfordert neue Fertigkeiten. Aber was passiert, wenn es dafür keinen Lehrberuf gibt? Wer bestimmt die Inhalte eines Lehrberufs? Und welche Rolle haben Gewerkschaften dabei?

Die Lehre in Österreich ist in ihrer Qualität einzigartig. Viele Länder beneiden uns um die fundierte duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule. Bei internationalen Lehrlingswettbewerben sind österreichische Lehrlinge regelmäßig ganz vorne mit dabei. Aber das wäre sicher nicht der Fall, würde zum Beispiel ein Installations- und Gebäudetechniker nichts über moderne Heizsysteme wissen. Berufsbilder müssen also laufend aktuellen Erfordernissen angepasst werden. Manchmal braucht es sogar einen neuen Lehrberuf.

Wer bestimmt das?
Theoretisch könnte der Vorschlag für einen neuen Lehrberuf von allen ausgehen: von Arbeiterkammer oder der Gewerkschaft genauso wie von Unternehmen oder vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft selbst. De facto kommt die Initiative aber meist aus der Wirtschaft. Ein Bildungsforschungsinstitut ist dabei ein wichtiger Partner. Es hilft, die Ideen und Vorstellungen in die Form einer Ausbildungsordnung zu gießen. Die Institute ibw oder öibf sind demnach in den gesamten Prozess involviert und erstellen einen Entwurf. 

Ist dieser in den Augen der Initiator:innen fertig durchdacht, wird er in den Bundes-Berufsausbildungsbeirat (BBAB) eingebracht. Im BBAB sind die Vertreter:innen der WKÖ und der AK mit ÖGB und Gewerkschaften stimmberechtigt. Vertreter:innen der Berufsschulen und aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit haben hingegen nur beratende Funktion. Der Beirat trifft sich monatlich. Hier hat die Arbeitnehmer:innenvertretung die Möglichkeit, eine Stellungnahme abzugeben. Gibt es noch Diskussionsbedarf, kann im BBAB ein sozialpartnerschaftlicher Ausschuss eingesetzt werden, in dem beide Seiten ihre eigenen Expert:innen zurate ziehen. Wird ein Kompromiss erzielt, so legt der BBAB dem Bundesminister das neue bzw. überarbeitete Berufsbild zur Verordnung vor.

Welche Rolle hat die PRO-GE?
Von allen Gewerkschaften vertritt die PRO-GE fachlich den größten Anteil an Lehrberufen. Da wir mit Stimmrecht im BBAB vertreten sind, werden entsprechend viele Ausbildungsordnungen von uns in der Gestaltung und Überarbeitung begleitet. Unser Fokus liegt dabei auf Einhaltung der Bestimmungen aus dem Kinder- und Jugendlichen-Beschäftigungsgesetz und dass Lehrinhalte altersmäßig den richtigen Lehrjahren zugeordnet sind.

Da die Lehrberufe immer komplexer werden, wünscht sich die Wirtschaft tendenziell immer mehr Modularisierung und längere Lehrverhältnisse. Hier versuchen wir, unter Beiziehung von Expert:innen aus den organisierten Betrieben, einen Kompromiss für eine angemessene Lehrzeit zu erzielen. Es geht schließlich auch um den Übergang vom Lehrlingseinkommen zum Facharbeiterlohn. Sind die Ausbildungsinhalte angemessen? Können die Inhalte im Großteil der Lehrbetriebe vermittelt werden? Auch auf die Berufsschulen darf nicht vergessen werden: Gibt es ausreichend Lehrlinge für eine eigene Berufsschulklasse? Gibt es genügend Fachpersonal aus der Praxis, die die Kenntnisse vermitteln können?

Was ist das Berufsbildscreening?
Das Berufsausbildungsgesetz verpflichtet den:die Minister:in für Wirtschaft alle fünf Jahre zu einer Lehrberufsanalyse. Im letzten Berufsbild-Screening 2019 haben die Bildungsinstitute ibw und öibf alle Lehrberufe auf ihre Aktualität hin überprüft und eine Prioritätenliste zur Überarbeitung vorgeschlagen. Daraus resultierend könnte also auch vom zuständigen Ministerium der Auftrag für das Ausarbeiten eines neuen Lehrberufs kommen.

Zahlreiche Beispiele zeigen aber, dass die Impulse meist aus den Betrieben selbst kommen. Denn Lehrberufe wie die Pharmatechnologie oder Fleischverarbeitung wurden mittlerweile überarbeitet, obwohl sie im Berufsbild-Screening 2019 noch als „grün“, also ohne Aktualisierungsbedarf, eingestuft wurden.

Beispiel Elektrotechnik und Fernwärmetechnik
Auch der Modul-Lehrberuf Elektrotechnik wurde vor fünf Jahren noch „grün“ eingestuft. 2023 wurde aber bereits an einer Überarbeitung gefeilt. In der neuen Ausbildungsordnung wird mit dem neuen Spezialmodul „Smart Home“ und „Erneuerbare Energien und Elektromobilität“ an sehr aktuelle Bedürfnisse angeknüpft. Ebenso entstand durch die Notwendigkeiten der grünen Transformation der Lehrberuf Fernwärmetechnik. Damit wird man dem Fachkräftebedarf beim Ausbau von Fernwärme und Fernkälte gerecht und stellt somit einen wichtigen Beitrag zum Gasausstieg – vor allem in Städten – dar.

Plädoyer für die Lehre
Der große Bedarf an Fachkräften und eine sich schnell wandelnde Arbeitswelt sind auch für die Lehrlingsausbildung herausfordernd.

Als Gewerkschaft haben wir durch unser Stimmrecht im BBAB eine große Chance, positiven Einfluss auf die Neugestaltung von Berufsbildern zu nehmen. Gleichzeitig sind wir dabei auf die Expertise und aktive Mitarbeit unserer Betriebsrät:innen und Ausbilder:innen in den Betrieben angewiesen. Betriebe sind ebenfalls ein wichtiger Teil der Lösung, indem sie wieder vermehrt ihre eigenen Fachkräfte ausbilden müssen. Denn die Zahl der ausbildenden Betriebe ist seit Jahren rückläufig. Und schließlich sind die politisch Verantwortlichen gefragt, indem sie formale Weiterqualifizierungen für Lehrabsolvent:innen schaffen und ihnen so Bildungspfade zu höherer berufspraktischer Qualifizierung öffnen.

Gibt es diesen gemeinsamen Willen unddie Anstrengungen dafür, sind wir als Gewerkschaft überzeugt, dass die Lehrlingsausbildung attraktiv bleibt und es in Zukunft genug Fachkräfte geben wird.